Han Han ist in China ein allseits bekannter Blogger, Autor, Rennfahrer und Gesellschaftskritiker. Als Schulabbrecher und literarisches Jugendtalent veröffentlichte er schon früh Thesen zum Bildungssystem in China. Auch 14 Jahre nach der Erstveröffentlichung scheinen sie aktuell zu sein und werden kritisch hinterfragt.
Han Han gelangte 1999 zum ersten Mal in den Fokus der Öffentlichkeit, als er den ersten Preis in einem nationalen Nachwuchsschriftstellerwettbewerb gewann. Im darauffolgenden Schuljahr scheiterte er gleich in mehreren Fächern, wurde nicht versetzt und entschied sich, von der Schule abzugehen. Dies stellt in der chinesischen Gesellschaft einen großen Tabubruch dar, da ein guter sozialer Stand meist nur durch ein Studium erreicht werden kann. Han Han jedoch, der die zehnte Klasse nicht beendete, erregte im gleichen Jahr große Aufmerksamkeit durch sein Erstlingswerk „Die drei Tore“三重门. In diesem Buch beschreibt er das Leben eines Neuntklässlers an einer Shanghaier Schule. Hierin, aber auch in Fernsehauftritten oder der im Jahr 2003 veröffentlichten Aufsatzreihe „Presseaussendung 2003“通稿2003 artikulierte er seine Kritik am chinesischen Bildungssystem, die auch heute, über ein Jahrzehnt nach der Erstveröffentlichung seiner Werke, engagiert diskutiert wird.
Schule nur für Grundbildung
Besonders viel Widerhall finden seine Aussagen zu den drei Kernfächern Chinesisch, Mathematik und Englisch. Zum Chinesischunterricht meint er beispielsweise:
Er plädiert dafür, den Oberstufenunterricht, in dem es um die Analyse von Texten bekannter Persönlichkeiten geht, komplett abzuschaffen. Auch die in China beliebte Form der Erörterung议论文, in der es darum geht, zu einem Impulstext eine Analyse mit einer bestimmten Anzahl von Zeichen zu schreiben, verurteilt er aufs Schärfste. Eine objektive Bewertung der Qualität eines Textes hält Han Han für nicht sinnvoll, darüber hinaus wettert er gegen rigide Wortobergrenzen:
Generell glaubt er, dass man mit dieser Art von Prüfungsaufgaben keinen Lernerfolg erzielen und sich durch mechanisches Üben leicht eine gute Note verdienen kann:
Netizen „Albert Zhang“ kann dieser Analyse einiges abgewinnen, auch wenn er einschränkt, dass man den Text eben auch im Kontext der Zeit seiner Veröffentlichung sehen müsse:
Auch Albert Zhang kritisiert die rigide Form der Erörterungen und vergleicht sie mit einer im Kaiserreich der Ming- und Qing-Dynastien üblichen Form der Textproduktion in Beamtenprüfungen, dem „achtgliedrigen Aufsatz“. Dieser behandelte konfuzianische Themen und hatte eine sehr enge Struktur, von der nicht abgewichen werden durfte. Logisches Denken, wie Befürworter argumentieren, könne man damit aber nicht lernen:
Breite Bildung statt Inselbegabung
Doch nicht nur am konkreten Inhalt der Lernfächer störte sich der junge Han Han. Auch die besondere Wertschätzung der Kernfächer und die Verurteilung aller Tätigkeiten außerhalb des Lehrplans als Zeitverschwendung kritisiert er scharf. Seinen Kritikern, die ihn als Paradebeispiel eines Inselbegabten bezeichnen, entgegnet er:
Aber das zählt nicht. Weil ich in Mathe und Chemie nicht besonders gut bin.但是这个不算。因为我数学化学学得不好。
Glücksritter und Kinderschreck
Netizen „Ich glaube du warst es“ hält ihn für arrogant, überbewertet und gefährlich:
Bildung für das Volk
Trotz dieser harten Kritik scheinen sich viele in Han Hans Aussagen wiederzufinden. So stammt einer der meistgelikten und meistkommentierten Beiträge von Netzbürger „He Xian“, der Han Hans „zielgruppenorientierte Bildung“ gutheißt:
Han Han als Idol?
Han Hans Lebensweg, sein Schulabbruch und seine anschließende Karriere als Schriftsteller haben viele inspiriert. Dennoch gab es in den letzten Jahren niemanden, der mit einem ähnlichen Bildungsweg Furore gemacht hat. So schließt „He Xian“ denn auch mit der berechtigten Frage:
„Cishen Ruji“ fühlt sich von der Frage angesprochen und sah sich zunächst in der Tradition Han Hans. Das Ergebnis ist allerdings weniger erfreulich:
Han Han selbst hat sich in späteren Blogeinträgen von einem Teil seiner Aussagen distanziert. Dass seine Ansichten damit aber nicht aus der (Netz-)Welt sind, beweist, dass sie einen Nerv getroffen haben und heute – mit Einschränkungen – immer noch aktuell sind.
Fußnoten:
* Dieser Ausspruch stammt aus einem chinesischen Sprichwort, das auf einer alten Geschichte („Mere copycat“) beruht. Er bedeutet, dass man sich bei dem Versuch, jemandem mit guten Eigenschaften nachzueifern, unbewusst zum Affen macht.
** In China werden Städte und Gemeinden nach ihrem wirtschaftlichen Entwicklungsgrad in verschiedene Stufen eingeteilt. Die Skala reicht von 1 bis 6, wobei die erste Stufe von den Metropolen Beijing, Shanghai, Guangzhou und Shenzhen gebildet wird.
Weiterführende Informationen zur Aussage: „Tatsächlich wechselt nur die Hälfte der Schüler in China nach der neunten Klasse in die weiterführende (mit dem Abitur abschließende) Oberstufe.“ Nimmt man die Statistiken der Nationalen Statistikamtes der Volksrepublik China中火人民共和国国家统计局 des Jahres 2015 zur Grundlage und vergleicht die Zahl der Absolventen der neunten Klasse an verschiedenen Formen von Mittelschulen (ohne Berufsschulen) mit der Zahl jener, die im selben Jahr begonnen haben, in der Oberstufe an normalen Mittelschulen (die mit dem chinesischen Abitur Gaokao abschließen) zu lernen, so ergibt sich eine Übergangsquote von ca. 56%. Neben der Möglichkeit in die Oberstufe zu wechseln und auf ein Abitur hinzuarbeiten gibt es für die Absolventen der neunten Klasse die Möglichkeit, eine Berufsausbildung im Rahmen der „Mittleren Berufsbildung“中等职业教育 zu machen. Diese umfasst in der Regel eine dreijährige Ausbildung, die neben weiterführender Allgemeinbildung eine auf das Berufsfeld ausgerichtete Ausbildung umfasst. Ähnliche, wenngleich weit weniger umfangreiche Programme gibt es auch für Personen, die nach der sechsten Klasse („Untere Berufsbildung“初等职业教育) oder erst nach der zwölften Klasse („Gehobene Berufsbildung“初等职业教育) die Schule beendet haben. Die Schulpflicht义务教育 in China umfasst neun Jahre, deswegen bilden Programme im Rahmen der „Unteren Berufsbildung“ eher die Ausnahme als die Regel und kommen im Wesentlichen in entlegenen und unterentwickelten Regionen zum Einsatz.
Zum Weiterlesen:
Individualisierung des chinesischen Abiturs – bessere Bildung durch Gaokao-Reform?
Das Internet frisst seine Kinder – Han Han kritisiert Sina Weibo