Wie viele klassische Gedichte lernen chinesische Schüler auswendig? Die Antwort einer 16-jährigen Schülerin: 2000. Auch jenseits des Hypes, den eine aktuelle TV-Show erzeugt hat, wird klassischen Gedichten in der frühkindlichen Erziehung in China immer noch große Bedeutung beigemessen.
Die TV-Show „Konferenz der chinesischen Gedichte“ 中国诗词大会 von CCTV-10 ist seit einem Monat in China überaus erfolgreich. Für Zuschauer wie Teilnehmende scheint besonders das Motiv der Verbreitung klassischer Kultur anziehend. Die Teilnehmenden im Alter von 7 bis 60 Jahren, darunter Schüler, Doktoranden, Bauern und Selbstständige, müssen in der Sendung nach unterschiedlichen Regeln klassische Gedichte auswendig vortragen. Die angesagte Show führt dazu, dass es vor allem für Schülerinnen und Schüler derzeit chic ist, klassische Gedichte auswendig zu lernen. In einer Buchhandlung in der Stadt Zhengzhou sind z.B. im Vergleich zum letzten Jahr 20% mehr Gedichtsammlungen verkauft worden. Allerdings birgt diese Leidenschaft auch einen gewissen Zwang in sich.
Mit Zwang zum Erfolg?
Zou Ziwen, Schüler der fünften Klasse, erzählt im Interview mit der chinesischen regionalen Zeitung Dahe Daily, dass seine Mutter wegen der TV-Show einen Lernplan für ihn erstellt habe. Gemäß dem Plan müsse er zwei Gedichte pro Woche auswendig lernen:
Überforderung kann leicht die Freude an Poesie verderben. Netzbürgerin Ye Xiaozi erzählt auf der Diskussionsplattform Zhihu von einem solchen Fall.
Ein Schatz fürs Leben
Eine 13-jährige Teilnehmerin der TV-Show, Hou Youwen, erzählte people.cn davon, dass ihr ihre Großmutter die chinesischen Zeichen beigebracht habe, als sie erst ein Jahr alt gewesen sei. Ein Jahr später habe sie angefangen, Gedichte zu lesen. Als Schülerin der fünften Klasse (ca. elf Jahre alt), konnte sie bereits die ganze Gedichtsammlung „300 Gedichte aus der Tang-Zeit“ auswendig vortragen. Sie empfindet ihre eigene Kindheit als sehr glücklich.
Viele Chinesen berichten ferner, dass sie mit fortschreitendem Alter die Gedichte, die sie als Kinder auswendig gelernt haben, immer besser verstehen können. Schöne Verse im Gedächtnis zu haben kann einen tief berühren, wenn man dann tatsächlich einen ähnlichen Moment erlebt. Mupeng meint auf dem Forum Sohu, dass er mit schon vier oder fünf Jahren angefangen habe, Gedichte auswendig zu lernen. Es habe ihm nicht weh getan, weil die Gedichte so gut gereimt gewesen seien, dass sie ihm wie Kinderlieder vorgekommen seien:
Es erscheint logisch, dass Kinder mehr lernen wollen, wenn das Lernen Spaß macht. Die Fragestellung „Wie viele klassische Gedichte kannst du auswendig?“ bringt jedoch nichts anderes als Stress mit sich. Eine vernünftige Einführung in die Welt eines Gedichtes bringt ganz eindeutig mehr Vergnügen.
Zum Weiterlesen:
Wolfgang Fromm, Bildung fängt im Kindergarten an – Probleme chinesischer Eltern bei der Kindergartensuche, SAC, 24.04.2013
Andrea Riemenschnitter, Chinas Kinder lernen nur noch, Tages Anzeiger, 03.12.2013
Andreas Landwehr, Auswendiglernen sehr gut, Phantasie ungenügend, Der Spiegel, 29.01.2011