Die chinesische Verfassung garantiert die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Einige Traditionen stehen dieser aber entgegen, so wurde Grundbesitz stets in männlicher Linie weitergegeben. Auch heute noch führt dies zu struktureller Benachteiligung von Frauen.
Fremd hier wie da
Seit der Kulturrevolution steht der Ausspruch „Frauen tragen die Hälfte des Himmels妇女能顶半边天“ in China für die angebliche Gleichberechtigung von Frauen in der chinesischen Gesellschaft.
In einer Diskussion aus dem Mai 2020 geht es um die Entschädigung von Bürgern auf dem Land bei Peking, deren bisherige Wohnungen einer staatlich angeordneten U-Bahn-Linie weichen müssen.
In solchen Fällen garantiert der Staat eine Entschädigung, indem betroffene Familien Wohnung und Grund erhalten宅基地. Welches Familienmitglied jedoch die Entschädigung dann tatsächlich besitzt, wird von der jeweiligen Regionalregierung entschieden.
Der Blogger „Amazing Uncle“震惊叔 (微信号:zhenjing2012) berichtet auf dem chinesischen WhatsApp-Äquivalent WeChat von der Pekinger Lokalsendung „Ein Schritt nach vorn向前一步„, in der Bürger ihre Alltagsprobleme mit Behördenvertretern 公共领域 und Experten besprechen können.
Der Blogger beschreibt die bisher diskutierten Themen allesamt als „Sand im Auge“眼睛里的沙子, also kleine, aber lästige Probleme. Ziel und der eigene Anspruch des Formats sei es, die dabei entstehenden Konflikte durch Gespräche und Beratungen aufzulösen.
Für Aufsehen jedoch sorgte eine Ausgabe der Show, in der Herr Liu刘先生, Vater eines Sohnes und einer Tochter, darüber klagt, dass nur sein Sohn eine Entschädigung für die im Zuge von Bauarbeiten abzureißende Wohnung bekommen soll. Seine Tochter, bzw. Frauen generell, sollen hingegen leer ausgehen, da diese aus der eigentlichen Familie in eine neue Familie „ausheiraten“外嫁 würden und damit zur Familie des Mannes und nicht mehr zu ihrer Geburtsfamilie gehören.
Herr Liu hält die Entschädigungsmaßnahme für unvereinbar mit der chinesischen Verfassung, die Frauen und Männern gleiche Rechte in Politik und Wirtschaftsleben zuspricht. Er fragt, weswegen „bei der Verteilung von Grundeigentum Männer nun aber privilegierter als Frauen“为什么在分配宅基地这件事情上,男性就是比女性特殊 sein sollten.
Mit seinen Zweifeln ist er nicht allein und unter dem Blogbeitrag des „Amazing Uncle“ auf WeChat entspinnt sich eine lebhafte Diskussion. So fordert etwa Netizen „junjun“ eine Reform:
Die zugrunde liegenden Ansichten führen nicht nur zu einer Benachteiligung durch die Politik, sondern auch durch die eigene Familie. So beschreibt die Mitdiskutantin „Arlette“ die Bevorteilung ihres Bruders durch ihre Eltern.
Auch Netzbürgerin „Weites Meer und Breiter Himmel“ beklagt, dass die geltenden Regelungen Frauen eine bestimmte Rolle in der Gesellschaft zuweisen würden, ohne dass diese nach ihrer Meinung gefragt würden. Sie zieht daraus ihre eigenen Konsequenzen.
Bei dem Personenstandsregister handelt es sich um ein im Leben der Chinesen äußerst wichtiges Dokument, das einem bestimmten Ort zugeordnet ist und über soziale Leistungen, Zugangschancen zu Bildung, Entschädigungsfragen oder in einigen Städten auch über den Erwerb von Wohnungen entscheidet.
Altbewährtes hält länger?
Die Kommentare zeigen, dass durch die geltenden Regelungen soziale Ungleichheit entsteht. Ein als Experte geladener Rechtsanwalt verteidigt in der Sendung aber die geltende Regelung mit dem „Ausheiraten“ der Frauen und damit, dass diese Vorgehensweise der „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Sitten und Gepflogenheiten“公序良俗 entspräche.
Darüber hinaus stellt der anwesende bekannte Soziologe Shi Shusi die These auf, dass Männer auf dem Land ja auch härter auf dem Feld arbeiten würden und darüber hinaus früher verstürben als Frauen, was doch die eigentliche Ungerechtigkeit sei. Herr Liu verlässt angesichts dieser Argumentationslinie empört frühzeitig die Sendung.
Netizen „Er Daye“ ist auf dem Land aufgewachsen und hält diese Argumentation ebenfalls für eine Frechheit.
Auch das Argument, dass der frühe Tod von Männern die eigentliche Ungerechtigkeit sei, will den Diskutanten nicht einleuchten. So glaubt die Netzbürgerin „VON mini“ an eine Mitverantwortung der Männer.
Darüber hinaus scheint die Regelung in Beijing nicht so alternativlos zu sein, wie sie von den geladenen Experten dargestellt wird. Zumindest berichten viele Netizens, dass in ihrer Heimat bei der Entschädigung nicht zwischen Männern oder Frauen unterschieden wird. Eine WeChat-Nutzerin beispielsweise berichtet aus ihrer ostchinesischen Heimat:
Die kontroverse Diskussion jedenfalls hat ein Nachspiel. Während die ersten Ausgaben dieser Sendung eher reibungslos abliefen, hat die wohl unerwartet heftige Reaktion auf diese Ausgabe dazu geführt, dass der Sender die zuvor online verfügbare Sendung gelöscht hat.
Der Blogger „Amazing Uncle“ hat zu diesem Vorgehen eine klare Meinung:
Unter seinem Blogbeitrag findet sich hauptsächlich Kritik an den von den Experten vorgetragenen Argumenten und Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Nur ein gegen den Blogger gerichteter Kommentar findet sich, in dem die Netzbürgerin „Lou Lan“ diesen anschuldigt.
Die Antwort des „Amazing Uncle“ folgt prompt.
Die überwiegende Kritik an der Entschädigungsmaßnahme und die zahlreichen persönlichen Geschichten zeigen, dass die momentanen Verhältnisse größtenteils als verbesserungsbedürftig wahrgenommen werden.
Zum Weiterlesen:
Geschlechterbewegung in der Coronakrise: Chinesische Frauen fordern mehr Unterstützung
Alleinerziehend in China: Von gesellschaftlichen und staatlichen Hindernissen
Wikipedia: Eigentum von Frauen in der Volksrepublik (auf Englisch)