Chinas Frauen auf dem Land: Die Hälfte des Himmels, aber nicht des Grundes?

Chinas Frauen auf dem Land: Die Hälfte des Himmels, aber nicht des Grundes?

Aufnahme der Pekinger Lokalsendung "Ein Schritt nach vorn"; Screenshot via https://mp.weixin.qq.com/s/JjS8031Ymc-FTzWFNf1YcA

Die chinesische Verfassung garantiert die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Einige Traditionen stehen dieser aber entgegen, so wurde Grundbesitz stets in männlicher Linie weitergegeben. Auch heute noch führt dies zu struktureller Benachteiligung von Frauen.

 

Fremd hier wie da

 

Seit der Kulturrevolution steht der Ausspruch „Frauen tragen die Hälfte des Himmels妇女能顶半边天“ in China für die angebliche Gleichberechtigung von Frauen in der chinesischen Gesellschaft.

 

In einer Diskussion aus dem Mai 2020 geht es um die Entschädigung von Bürgern auf dem Land bei Peking, deren bisherige Wohnungen einer staatlich angeordneten U-Bahn-Linie weichen müssen.

 

In solchen Fällen garantiert der Staat eine Entschädigung, indem betroffene Familien Wohnung und Grund erhalten宅基地. Welches Familienmitglied jedoch die Entschädigung dann tatsächlich besitzt, wird von der jeweiligen Regionalregierung entschieden.

 

Der Blogger „Amazing Uncle“震惊叔 (微信号:zhenjing2012) berichtet  auf dem chinesischen WhatsApp-Äquivalent WeChat von der Pekinger Lokalsendung  „Ein Schritt nach vorn向前一步„, in der Bürger ihre Alltagsprobleme mit Behördenvertretern 公共领域 und Experten besprechen können.

 

Der Blogger beschreibt die bisher diskutierten Themen allesamt als „Sand im Auge“眼睛里的沙子, also kleine, aber lästige Probleme. Ziel und der eigene Anspruch des Formats sei es, die dabei entstehenden Konflikte durch Gespräche und Beratungen aufzulösen.

 

Für Aufsehen jedoch sorgte eine Ausgabe der Show, in der Herr Liu刘先生, Vater eines Sohnes und einer Tochter, darüber klagt, dass nur sein Sohn eine Entschädigung für die im Zuge von Bauarbeiten abzureißende Wohnung bekommen soll. Seine Tochter, bzw. Frauen generell, sollen hingegen leer ausgehen, da diese aus der eigentlichen Familie in eine neue Familie „ausheiraten“外嫁 würden und damit zur Familie des Mannes und nicht mehr zu ihrer Geburtsfamilie gehören.

 

Herr Liu hält die Entschädigungsmaßnahme für unvereinbar mit der chinesischen Verfassung, die Frauen und Männern gleiche Rechte in Politik und Wirtschaftsleben zuspricht. Er fragt, weswegen „bei der Verteilung von Grundeigentum Männer nun aber privilegierter als Frauen“为什么在分配宅基地这件事情上,男性就是比女性特殊 sein sollten.

 

Mit seinen Zweifeln ist er nicht allein und unter dem Blogbeitrag des „Amazing Uncle“ auf WeChat entspinnt sich eine lebhafte Diskussion. So fordert etwa Netizen „junjun“ eine Reform:

 

Man sollte nicht weiter von der „einen Hälfte des Himmels“ schwafeln, solange man den Frauen nicht einmal „die Hälfte des Grundes“ zuspricht. Nur das ist ein Fortschritt in der Gesellschaft! Wer bestimmt denn, dass Frauen unbedingt „ausheiraten“ müssen?不要空谈“半边天”,把“半边地”分好了,才谈得上社会进步。谁规定女儿一定要外嫁?如果因为没有生产资料而不得不外嫁,那是这个时代的悲剧!

 

Die zugrunde liegenden Ansichten führen nicht nur zu einer Benachteiligung durch die Politik, sondern auch durch die eigene Familie. So beschreibt die Mitdiskutantin „Arlette“  die Bevorteilung ihres Bruders durch ihre Eltern.

 

Bei uns zu Hause haben mich meine Eltern immer mehr „verwöhnt“ als meinen älteren Bruder. Mein Bruder neckte mich immer, dass das eine Benachteiligung von Männern sei. Aber tatsächlich laufen zwei Häuser und zwei Geschäfte auf den Namen meines Bruders, während ich und meine Schwägerin überhaupt nichts haben. Ich fragte meine Eltern, weswegen sie (bei den Häusern und Geschäften meines Bruders) nicht einfach den Namen meiner Schwägerin mit drauf schreiben, sie gehöre ja auch zu unserer Familie? Keine Antwort…我家,我和我哥,爸妈一直比较宠我,我哥笑称重女轻男,但是,我哥名下两套房两个店铺,我和我嫂子什么都没有,我问爸妈,为什么不把嫂子名字加上去,她不算一家人吗? 没有回答。。。

 

Auch Netzbürgerin „Weites Meer und Breiter Himmel“ beklagt, dass die geltenden Regelungen Frauen eine bestimmte Rolle in der Gesellschaft zuweisen würden, ohne dass diese nach ihrer Meinung gefragt würden. Sie zieht daraus ihre eigenen Konsequenzen.

 

Meine Schwester hat ausgeheiratet und ihr Personenstandsregister ist noch bei uns. Aber sie hat hier überhaupt keine Ansprüche und in ihrer neuen Familie heißt es auch, sie sei eine Fremde und ihr Personenstandsregister sei ja auch nicht dort, also bekommt sie auch dort keine Zuwendungen. Generell heißt es, es wäre Verschwendung, Töchtern irgendwas zuzusprechen, da sie ja eh ausheiraten. Da wird stillschweigend angenommen, dass jedes Mädchen einmal heiraten wird – also ich, ich werde nicht heiraten!我姐嫁出去了,户口还在我家,就已经不分给她任何东西了,去了婆家,人家说是外人,户口不在,也不分东西,说女生嫁出去就浪费了,就是默认女的肯定会嫁人呗,我就不婚

 

Bei dem Personenstandsregister handelt es sich um ein im Leben der Chinesen äußerst wichtiges Dokument, das einem bestimmten Ort zugeordnet ist und über soziale Leistungen, Zugangschancen zu Bildung, Entschädigungsfragen oder in einigen Städten auch über den Erwerb von Wohnungen entscheidet.

Altbewährtes hält länger?

 

Die Kommentare zeigen, dass durch die geltenden Regelungen soziale Ungleichheit entsteht. Ein als Experte geladener Rechtsanwalt verteidigt in der Sendung aber die geltende Regelung mit dem „Ausheiraten“ der Frauen und damit, dass diese Vorgehensweise der „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Sitten und Gepflogenheiten“公序良俗 entspräche.

 

Darüber hinaus stellt der anwesende bekannte Soziologe Shi Shusi die These auf, dass Männer auf dem Land ja auch härter auf dem Feld arbeiten würden und darüber hinaus früher verstürben als Frauen, was doch die eigentliche Ungerechtigkeit sei. Herr Liu verlässt angesichts dieser Argumentationslinie empört frühzeitig die Sendung.

 

Netizen „Er Daye“ ist auf dem Land aufgewachsen und hält diese Argumentation ebenfalls für eine Frechheit.

 

Seit meiner frühsten Jugend habe ich im Dorf meiner Großeltern gewohnt. Jedes Jahr hat meine Großmutter beim Bestellen des Feldes genauso hart angepackt, wie mein Großvater. Darüber hinaus hat sie noch die Lebensmittelversorgung und das alltägliche Leben verantwortet, das war wirklich sehr mühsam. Diese sogenannten „Experten“ scheinen überhaupt keine Ahnung vom Leben der Frauen auf dem Land zu haben und wollen trotzdem mitplappern.我从小在农村和爷爷奶奶生活,每年种地干农活奶奶都是和爷爷一起的,一点也没少干,而且还要照顾家里的饮食起居,真的很辛苦。这些“专家”估计根本不了解农村女性的生活,真心是张嘴就来。

 

Auch das Argument, dass der frühe Tod von Männern die eigentliche Ungerechtigkeit sei, will den Diskutanten nicht einleuchten. So glaubt die Netzbürgerin „VON mini“ an eine Mitverantwortung der Männer.

 

Warum wohl leben Männer kürzer als Frauen? Na, weil sie keine Selbstdisziplin haben, rauchen und trinken. Wie will man da alt werden?这位父亲真赞!我时常也有一种出嫁之后在婆家是外人,回娘家是客人的感觉。那种无形无力的无助感。男人寿命短为什么呢,因为不自律,又抽烟又喝酒,能不短吗?

 

Darüber hinaus scheint die Regelung in Beijing nicht so alternativlos zu sein, wie sie von den geladenen Experten dargestellt wird. Zumindest berichten viele Netizens, dass in ihrer Heimat bei der Entschädigung nicht zwischen Männern oder Frauen unterschieden wird. Eine WeChat-Nutzerin beispielsweise berichtet aus ihrer ostchinesischen Heimat:

 

Hier in Hangzhou wird bei der Entschädigung nach Abrissen nicht nach Männern und Frauen unterschieden. Und bei Einzelkindern bekommt man sogar eine Wohnung mehr zugesprochen. Gut, dass ich als Mädchen in Hangzhou lebe… (…) Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass an solchen Orten (wie hier in einem Vorort von Beijing) die Rechte von Männern viel zu sehr betont und dadurch die Rechte von Frauen beschnitten werden. Am Ende liegt es wohl an der jeweiligen Regionalregierung.杭州这里拆迁不分男女 然后独生子女还多一套还好我这个女子生在杭州emmmm说实话 这种地方 就是男权太过了 导致女权被压制 还是地方政府问题

 

Die kontroverse Diskussion jedenfalls hat ein Nachspiel. Während die ersten Ausgaben dieser Sendung eher reibungslos abliefen, hat die wohl unerwartet heftige Reaktion auf diese Ausgabe dazu geführt, dass der Sender die zuvor online verfügbare Sendung gelöscht hat.

 

Der Blogger „Amazing Uncle“ hat zu diesem Vorgehen eine klare Meinung:

 

Damit kann man ja tatsächlich eine Debatte hervorrufen. Jene Stimmen, die es wert wären, gehört zu werden sind nun alle verstummt. Findet ihr nicht, dass der Slogan der Sendung im Nachhinein ironisch wirkt? Dieser lautet: „Die erste Sendung, in der Menschen und Behörden miteinander ins Gespräch kommen.“ Sind sie denn ins Gespräch gekommen? Hat es denn was gebracht? (Eher scheint mir), dass wenn das Resultat nicht das gewünschte ist, man vortäuscht, dass nichts geschehen sei und schnell die Spuren verwischt. Es ist nur erlaubt, in Lobeshymnen (auf das Programm) einzustimmen und nicht, sich dagegen auszusprechen. Ist das nun ein Austausch oder nicht doch eher eine Gehirnwäsche?本来可以引起讨论、值得发声改变的声音全都湮灭不见。 回头看它的slogan不觉得讽刺吗?“第一档人和公共领域沟通的节目”,沟通了吗?达到效果了吗?效果不如意就假装无事发生迅速掩埋痕迹,只许赞扬不许反对,这是沟通还是洗脑?

 

Unter seinem Blogbeitrag findet sich hauptsächlich Kritik an den von den Experten vorgetragenen Argumenten und Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Nur ein gegen den Blogger gerichteter Kommentar findet sich, in dem die Netzbürgerin „Lou Lan“ diesen anschuldigt.

 

Findest du nicht, dass deine Meinungen von deiner Position abhängig sind? Da es so viele Frauen gibt, die deine Texte lesen, fängst du jetzt einfach an, jeden Tag feministische Artikel zu schreiben?你不觉得你屁股觉得脑袋吗?看你文章的女性居多,你就天天弄些女权文章?

 

Die Antwort des „Amazing Uncle“ folgt prompt.

 

Was heißt hier Feminismus? Na ja, wenn Gleichberechtigung für dich dasselbe ist wie Feminismus, dann bitte.什么是女权啊,说男女平等就是女权呗

 

Die überwiegende Kritik an der Entschädigungsmaßnahme und die zahlreichen persönlichen Geschichten zeigen, dass die momentanen Verhältnisse größtenteils als verbesserungsbedürftig wahrgenommen werden.

 

Zum Weiterlesen:

Geschlechterbewegung in der Coronakrise: Chinesische Frauen fordern mehr Unterstützung

 

 

Alleinerziehend in China: Von gesellschaftlichen und staatlichen Hindernissen

Wikipedia: Eigentum von Frauen in der Volksrepublik (auf Englisch)

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