Eine Reihe von guten Taten beschäftigt derzeit die chinesische Netzgemeinde. Ausgelöst wurde die Diskussion von einer Reihe Fotos, die besonders vorbildliches Verhalten chinesischer Bürger in der U-Bahn der Provinzhauptstadt Chengdu dokumentieren.
Ende Juni 2017 verbreitete sich über das soziale Netzwerk erneut eine dieser Storys, die offenbar zum Nacheifern anregen soll. Sie trug sich wie die Meldungen zuvor auch in der U-Bahn der Hauptstadt der Provinz Sichuan zu. Über den offiziellen Account der Chengduer U-Bahn verbreitet heißt es diesmal:
Nicht einmal 24 Stunden später wurde der Post tausendfach geteilt und kommentiert, zum Beispiel auch von Netzbürger „HuSkysky“. Dieser begrüßt diesen Post und berichtet aus dem eigenen Umfeld:
Aufsehen erregte neben anderen Begebenheiten unter anderem auch ein kleiner Junge, der ebenfalls in der U-Bahn von Chengdu erst einer Frau mit Kind seinen Sitzplatz anbot und dann seiner ermüdeten Mutter den Kopf stützte.
Alles nur Propaganda?
Diese Begebenheit wurde durch den Weibo-Account eines staatlichen Nachrichtenorgans verbreitet. Diesmal veröffentlicht als Screenshot einer Smartphone-Textnachricht, die wohl von einem Leser an die Nachrichtenseite gesendet worden sein soll.
Dass all diese Beobachtungen innerhalb eines Monats in der U-Bahn von Chengdu gemacht werden, ist ein bisschen viel des Zufalls meinen einige Netizens. Weibo-Nutzer „yicangsu“ zum Beispiel merkt deshalb nicht ohne Ironie an:
Die Zweifel an der Echtheit sind berechtigt, denn schon zuvor hatte die Regierung mit verschiedenen Aktionen versucht, das öffentliche Betragen der chinesischen Bevölkerung zu „zivilisieren“, wie sie es selbst nennt. Verwendet wird dabei im offiziellen Politjargon der Begriff wenming文明, der sowohl mit Zivilisation, Bildung oder aber Kultur übersetzt werden kann.
Im Rahmen der seit den späten 1980er Jahren andauernden Wenming-Kampagne wurden Aktionen zum unter anderem ordentlichen Anstehen an Haltestellen ins Leben gerufen, um dem Drängeln an Bus- und Bahnhaltestellen Herr zu werden.
Meist jedoch ohne großen Erfolg. Während die Aufrufe zum guten Betragen im Vorfeld der Olympiade 2008 noch für Verwunderung bei ausländischen Journalisten sorgten, bleiben sie in China selbst inmitten der Propagandaflut meist unbeachtet.
Dass es sich bei den Posts aus der Chengduer U-Bahn um Inszenierungen handelt, scheint nicht nur wegen der Häufigkeit dieser zufälligen Aufnahmen wahrscheinlich zu sein, sondern auch, weil andere staatliche Weibo-Accounts wie der des städtischen Umweltamtes prominent unter den Kommentaren vertreten sind.
Ebenso die Ähnlichkeit zu sonst nur auf staatlichen Seiten geschilderten Begebenheiten ist auffällig sowie dass diese gut zu den Mission Statements der staatlichenWenming-Webseiten passen. So heißt zum Beispiel auf der Seite des Weming-Ministeriums von Chengdu:
In Chinas sozialen Medien wird öffentliches Fehlverhalten schnell verurteilt, wie das Beispiel eines U-Bahn Passagiers zeigt, der sich ganz ungeniert an einer Haltestelle erleichtert hatte. Ob es sich bei den weitverbreiteten Social-Media-Posts nun um Inszenierungen oder um tatsächliche Zuschriften handelt, tut der Reichweite der Posts und den generell positiven Reaktionen keinen Abbruch. Diese scheinen zumindest im Netz zu bezwecken, was der Kern der Wenming-Kampane ist: Gute Vorbilder hervorzuheben, denen es sich lohnt nachzueifern wie der Kommentar von Netzbürger „Klavier Kaiser 17950“ zeigt:
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Die Kampagne erinnert an ähnliche Aktionen in der Sowjetunion zur Erziehung „der Massen“. Hat nichts genützt! Vor der Moral kommt das Fressen. In Form von Nahrung und Bildung.