Zwischen Demokratie und Nationalismus – Entwicklung eines Nationalbewusstseins in China

Zwischen Demokratie und Nationalismus – Entwicklung eines Nationalbewusstseins in China

Wohin wird sich Chinas Nationalbewusstsein entwickeln? Credit: Wikimedia Commons via Graeme Bartlett

In seiner Abhandlung „Zwischen Demokratie und Nationalismus余英时《民主与民族主义之间 》“ setzt sich Professor Yu Yingshi* mit dem Identitätsgefühl des chinesischen Volkes auseinander. Es geht dabei um die Frage, die sich jeder Chinese sowohl in der Volksrepublik, als auch in der Republik China stellt: Wie definiere ich mich und was definiert mein Heimatland?

 

Übersetzt und zusammengefasst von Kim Vender im Rahmen der Partnerschaft mit der Ruhr-Uni Bochum.

 

 

Seine Abhandlung verfasste Yu vor dem Hintergrund der ersten demokratischen Wahlen in der die Republik China auf Taiwan (im Folgenden Taiwan). Nachdem Taiwan nach Ende des Zweiten Weltkriegs durch die Nationalisten der Guomindang (GMD) von der Kolonialherrschaft der Japaner befreit wurde, knüpfte daran eine fast vierzigjährige autoritäre Führung der GMD an. Erst mit Aufhebung des Kriegsrechts 1987 und der Gründung sowie Zulassung der Oppositionspartei DPP (Democratic Progressive Party)**, konnten 1996 die ersten freien Präsidentschaftswahlen auf Taiwan abgehalten werden.

 

Aufgrund der von der VR China propagierten „Ein-China-Politik“, die Taiwan als Teil der Volksrepublik ansieht und gleichzeitige diplomatische Beziehungen zur taiwanesischen und chinesischen Regierung nicht akzeptiert, gab Peking im Vorfeld der Wahlen ein deutliches Signal. Die Regierung in Peking positionierte 190 ballistische Raketen*** auf dem Festland und richtete sie direkt auf die andere Seite der Taiwan-Straße.

 

Der Autor des Textes beschreibt diese Raketen als Symbol des pan-chinesischen Nationalismus, der vom Festland ausgeht und das „Ein-China-Prinzip“ betont. Die Präsidentschaftswahlen auf Taiwan wären im Gegensatz dazu ein Symbol der Demokratie, die von der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) als „aus dem Westen kommend“ kritisch betrachtet wird.****

 

Aus welchen Gründen hat sich der Nationalismus in China entwickelt?

 

In seinen Ausführungen zur Entstehung des Nationalgefühls der „Chinesen“, geht Yu bis in die 1840er Jahre zurück, als mit den Opiumkriegen die gewaltsame Öffnung des chinesischen Kaiserreiches begann und mit den Sino-Japanischen Kriegen sowie der Behandlung nach Ende des Ersten Weltkriegs durch den Westen, Chinas empfundene Demütigungen sich bis in das 20. Jahrhundert erstreckten.

 

Unter dieser äußeren Bedrohung und Schmach durch den westlichen Imperialismus, entstand die erste große Welle des „chinesischen Nationalismus“, der aus der Sicht des Autors von Abneigung bis hin zu Hass gegenüber den Westmächten (vor allem Frankreich und Großbritannien aber auch Deutschland) geprägt war. Das Nationalgefühl wurde als Waffe eingesetzt, um der Gefahr von außen geeint entgegentreten zu können und sich innerlich stark zu machen.

 

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs änderten sich die Umstände. Taiwan wurde Mitbegründer der Vereinten Nationen und hatte von 1945 bis 1971 sogar einen Sitz im Sicherheitsrat inne, der anschließend von der Volksrepublik übernommen wurde. Dieser Wandel vom einst schwachen, ausgebeuteten Land zu einer starken, international beachteten Nation, hatte auch Auswirkungen auf das Nationalgefühl der Chinesen (zunächst der Taiwaner und später der Festlandchinesen). Der Nationalismus entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte von einem defensiven, abwehrenden zu einem offensiven und selbstbewussten Nationalismus.

 

Prof. Yu analysiert dies unter einem kulturpsychologischen Aspekt. Das chinesische Kaiserreich war von jeher stolz, mit einem kulturellen Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Völkern. Nach dem erniedrigenden Aufeinandertreffen mit den Westmächten, hatte China die Absicht, vom Westen das Nötige zu lernen, um sich zu modernisieren.***** Die chinesischen Literaten hatten den Westen studiert und seine überlegenen Elemente wie Demokratie und Wissenschaft anerkannt, wie sie zum Beispiel bei der Vierten-Mai-Bewegung 1919 gefordert wurden.

 

Hier argumentiert der Autor, dass sich während der längeren Zeit der Nachahmung allerdings keine Erfolge bei der politischen „Verwestlichung“ eingestellt hatten und sich aufgrund von Frustration eine Hass-Psychologie gegenüber dem Westen entwickelte. Er betont hierbei, dass das Hassgefühl aufgrund der Erniedrigung und Schmach im 19. Jh. sowie das Hassgefühl aufgrund der Frustration im 20. Jh. nicht dasselbe sei, sich beide jedoch gegenseitig bestärken würden.

 

Anstatt abzuschwächen, da die Zeit des Imperialismus beendet war und der Nationalismus als Gegenwehrmechanismus nicht mehr notwendig gewesen wäre, hat sich der chinesische Nationalismus als Ausdruck von altem Stolz aufgrund des kulturellen Überlegenheitsgefühls nur noch verstärkt und entwickelte sich zu einem gegen den Westen gerichtetes Selbstbewusstsein. Der Autor spricht von einer Neid-Hass-Verflechtung, die darin begründet ist, dass das chinesische Volk eine nationale Identität herausgebildet hat, die einerseits dem Westen sehr ablehnend gegenübersteht aber westliche Werte wie Demokratie hingegen durchaus in ihrem Land umsetzen möchte.

 

Nationalismus als globaler Trend im Rahmen der Nationalstaatenbildung

 

Yu Yingshi geht auch auf andere Länder ein, um die Entstehung dieser Neid-Hass- Verflechtung darzustellen. Er führt aus, dass sich das Russische Reich Großbritannien und auch Frankreich zu Vorbildern seiner politischen Modernisierungsbestrebungen machte aber ebenso scheiterte wie das damalige China. Sein Neid gegenüber den Westmächten wandelte sich ebenfalls in Hass um und der Marxismus-Leninismus konnte letztendlich als politische Ideologie Fuß fassen.

 

Ein weiteres Beispiel ist Deutschland, das zwar die Ideen der Aufklärung von Frankreich und Großbritannien übernahm, andererseits aber einen ausgeprägten Hass auf seinen Nachbarstaat Frankreich entwickelte, der nicht zuletzt auf die napoleonischen Kriegszüge auf deutschem Territorium zurückzuführen ist.*** *** Der Unterschied zu Russland läge aber laut Yu Yingshi darin, dass sich Deutschlands Nationalbewusstsein von innen heraus, nach seinen kulturellen Eigenheiten entwickelte und sich als Folge der zunehmenden Unterordnung des Individuums unter das Kollektiv, also die „Nation“, letztendlich der Nationalsozialismus als deutsche Form des Nationalismus entwickelte.

 

Für die Volksrepublik China stellt der Autor fest, dass sich die Neid-Hass-Verflechtung des chinesischen Nationalismus vom russischen (von außen) zum deutschen Modell (von innen) wandelt und die KPCh außerdem die Entwicklung hin zu einem extremeren Nationalismus unterstützen würde, da der Marxismus als politische Leitideologie nicht mehr für die Legitimierung der Partei ausreichen würde.

 

Somit beschloss die KPCh den Nationalismus als zweite Stütze ihrer Machterhaltung zu fördern. In diesem Sinne unterstütze Peking Nationalismus-Initiativen mit Einbezug von konfuzianischen Ideen als Bestandteil des „neuen chinesischen Nationalismus“, den die politische Führung als Gegenwehr gegen den Druck aus dem Westen hinsichtlich der Menschenrechtsfrage propagierte.

 

Auch mit gezielten nationalistischen Formulierungen versuchte die KPCh das kollektive Nationalgefühl der Chinesen zu stärken, um der ideologischen Krise gegenzusteuern. Yu Yingshi beschreibt, dass der chinesische Nationalismus sich weiter verstärkt und sich zudem immer stärker gegen die USA richtet, die als „Symbol des Westens“ betrachtet werden. Mit neuem Selbstbewusstsein werden Forderungen laut, dass China den von den USA geführten Provokationen des Westens als starke Nation entgegentreten muss.

 

Im Einklang mit seinem Argument, dass sich der chinesische Nationalismus zum deutschen Modell hin wandelt, steht die Überlegung des Autors, dass sich in China ein Nationalismus entwickeln könnte, der Züge des deutschen Nationalsozialismus trüge. Ob dies der KPCh in China gelingen würde, was der Sicherung ihres absoluten Machtanspruchs zugute käme, bliebe unsicher. Festzustellen ist jedoch, dass vor allem im Hinblick auf die jahrelangen, sich neuerdings verschärfenden Spannungen zwischen der VR China und Japan, eine Verstärkung nationalistischer Strömungen in China beobachtet werden kann.

 

Die Beziehung von Nationalismus zu Demokratie – Raketen versus Wahlen?

 

Der zweite Schwerpunkt neben der Herausbildung des Nationalismus in China ist die Frage, in welcher Beziehung Nationalismus und Demokratie zueinander stehen. Yu Yingshi argumentiert, dass es im Bewusstsein der Chinesen zwischen Nationalismus und Demokratie Spannungen gebe, die anhand der Raketenbedrohung Taiwans deutlich geworden sind. Es besteht dabei kein positiver Zusammenhang zwischen Demokratie und Nationalbewusstsein.

 

Im Laufe des Modernisierungsprozesses, wurde das chinesische Volk laut Yu mit zwei Identitätskrisen konfrontiert. Erstens, was macht mich als modernen Chinesen aus? Zweitens, was macht den modernen Staat „China“ aus? Er argumentiert, dass es unter chinesischen Philosophen und Schriftstellern wie Liang Qichao, Chen Duxiu, Hu Shi und anderen, die übereinstimmende Sichtweise gab, dass demokratische Werte wie Freiheit, Gleichheit und auch Menschenrechte auf der individuellen Ebene Anerkennung finden sollten. Vom chinesischen Volk wird daher der „Respekt für die individuelle Unabhängigkeit der Persönlichkeit“ für die persönliche Ebene durchaus gefordert und als selbstverständlich angesehen.

 

Was jedoch die Identität des „Nationalstaats China“ angeht, haben die Chinesen seit je her unterschiedliche Ansichten. Für die Bürger des Landes sei es kompliziert, sich für ein Modell des modernen Nationalstaats zu entscheiden (Frankreich, Großbritannien, Russland oder Deutschland), da diese aus dem Westen kämen und außerdem auf die Eigenschaften des jeweiligen Landes zugeschnitten waren. Dies wirft wiederum die Frage auf, welche konkrete Substanz dem Begriff „China“ bzw. den entsprechenden chinesischen Zeichen „中国“ inne wohnt. Geht es um eine rein geografische Abgrenzung, eine kulturelle oder ethnische Einheit? Oder ist es ein politisches Gebilde?

 

Nach der ursprünglichen Auffassung von Dr. Sun Yat-sen (1866-1925), dem „Vater des chinesischen demokratischen Staates“*** *** *, besteht zwischen Demokratie und Nationalismus eine komplementäre Beziehung. Er betonte, dass seine „Drei Volksprinzipien“*** *** ** genau das gleiche beinhalten, wie das Motto der französischen Revolution: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ oder U.S.-Präsident Lincolns „mit dem Volk, durch das Volk, für das Volk“.

 

Dr. Sun Yat-sen war der Meinung, dass jede Nation ihre eigenen Charakteristika hat, die in ihrer modernen nationalen Identität zum Vorschein treten, aber jeder Nationalstaat den bürgerlichen Freiheiten und Menschenrechten eines jeden Einzelnen die höchste Bedeutung zumessen. In diesem Sinne bestünde zwischen dem westlichen Nationalismus und der Demokratie kein Widerspruch. Seiner Meinung nach könnten die „Drei Volksprinzipien“ als Modell eines Nationalstaats mit chinesischen Charakteristika genommen werden und somit ein Vorbild für die Modernisierung Chinas sein.

 

Yu Yingshi betont in seinen Ausführungen, dass das chinesische Volk die Grundprinzipien der Demokratie durchaus anerkennen würden und von der Vierten-Mai-Bewegung bis heute immer wieder deutlich gemacht haben, dass sie sich für die Umsetzung von Demokratie in ihrem Land entschlossen einsetzen. Er weist jedoch auch darauf hin, dass es in der Bevölkerung einen Zwiespalt zwischen demokratischer und nationaler Identität gibt und die Berichterstattung der chinesischen und westlichen Medien über die Präsidentschaftswahlen in Taiwan eine Art Wettbewerb zwischen Demokratie und Nationalismus hervorgerufen hat.

 

Nichtsdestotrotz ist Yu Yingshi der Meinung, dass die Durchführung der ersten demokratischen Wahlen in Taiwan trotz der Bedrohung durch Raketen, ein Zeichen der Krise aber auch gleichzeitig ein Symbol der Hoffnung ist!

 

 

_____

 

* Der in der Volksrepublik China geborene Yu Yingshi studierte sowohl in Peking und Hong Kong als auch in Harvard, wo er promovierte. Anschließend lehrte er als Professor für Ostasienwissenschaften und Geschichte an renommierten US-amerikanischen Universitäten wie der University of Michigan, Yale und Princeton. Yu Yingshi kam schon früh mit dem Konfuzianismus in Berührung und entwickelte während der Demokratie- Debatten in den 1980er und 1990er Jahren entgegen der Auffassung anderer Politikwissenschaftler sowohl in China als auch im Westen, das Argument, dass konfuzianische Ideen mit Demokratie kompatibel seien. Damit brachte er das westliche Konzept der Demokratie mit den umstrittenen „asiatischen Werten“ in Verbindung.

 

** Heute setzt sich die DPP für die Wahrung der taiwanesischen Souveränität ein und betont in ihrer Politik die lokale taiwanesische Identität, wohingegen die GMD eher chinafreundlich eingestellt ist.

 

*** vgl. Chen, Yu-shun, Taiwan Nachrichten, Nr. 1, 5. Jahrgang, 21.02.07, Taipei Wirtschafts- und Kulturbüro Wien Presseabteilung: Taipeh, S. 2.

 

**** Demokratie ist in der Volksrepublik kein Tabuthema. Tatsächlich beschäftigt sich die KPCh bereits seit der Staatsgründung 1949 intensiv mit Demokratie. So werden demokratische Strukturen per se nicht abgelehnt, eine Demokratie westlicher Prägung jedoch als nicht passend für die VR China empfunden. Viele festlandchinesische Wissneschaftler setzen sich heute damit auseinander, welche Form der Demokratie für ein Land wie China angebracht sei. Einer der bekanntesten von ihnen ist Yu Keping mit seinem Essay von 2009 Demokratie ist eine gute Sache民主是个好东西.

 

***** Sun Yat-sens „to try hard to catch up“ und Mao Zedongs „England überholen und zu den USA aufschließen“ verdeutlichen diese Absicht.

 

*** *** vgl. Wehler, Hans-Ulrich (2007) Nationalismus: Geschichte, Formen, Folgen, 3. Auflage, C.H.Beck: München, S. 68 ff.

 

*** *** * vgl. Chang, Johannes (2012) Sun Yat-sen: seine Lehre und seine Bedeutung, Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften (JCWS) Nr. 1 (1960), Universität Münster, S. 179.

 

*** *** ** Die „Drei Volksprinzipien“ bestehen aus der Volkszugehörigkeit, der Volksherrschaft und dem Volkswohlstand.

 

 

Zum Weiterlesen

 

Chang, Johannes (2012) Sun Yat-sen: seine Lehre und seine Bedeutung, Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften (JCWS) Nr. 1 (1960), Universität Münster, S. 179-194.

 

Chen, Yu-shun, Taiwan Nachrichten, Nr. 1, 5. Jahrgang, 21.02.07, Taipei Wirtschafts- und Kulturbüro Wien Presseabteilung: Taipeh.

 

Keating, Jerome F., Taiwan und die Entstehung einer neuen Identität, Taiwan Corner, 19.03.11 , letzter Zugriff: 10.04.14.

 

Wehler, Hans-Ulrich (2007) Nationalismus: Geschichte, Formen, Folgen, 3. Auflage, C.H.Beck: München.

 

Yu, Yingshi (1996) Minzhu yu minzu zhuyi zhijian (Zwischen Demokratie und Nationalismus).

 

Schubert, Gunter (2001) Nationalismus in China: Der liberale Gegentext zum anti-westlichen Etatismus, Projekt Diskussionspapier Nr. 18, August 2001, Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Gerhard-Mercator Universität: Duisburg.

 

Schubert, Gunter (1998) Die Taiwanfrage und die nationale Identität Chinas, Internationale Politik und Gesellschaft (IPG), Vol. 3, Nr. 98, S. 267-274.

 

Schneider, Axel; Schubert, Gunter (1997) „Sind wir Chinesen oder Taiwanesen?“: Taiwan im Konflikt konkurrierender nationaler und kultureller Identitäten, ASIEN, Nr. 62, Januar 1997, S. 46-67.

 

Im Rahmen der Uni-Partnerschaft mit der Ruhr-Universität Bochum, übersetzten Studenten aus dem M.A. Politik Ostasiens Essays chinesischer Akademiker zu aktuellen sozialpolitischen Themen. Die Texte wurden von ihrem Dozenten Lin Jing und der SAC Redaktion betreut. 

 

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