Der Missbrauch einer 23-jährigen Inderin in Neu-Delhi am 16. Dezember 2012, an dessen Folgen das Opfer später starb, erschütterte die ganze Welt. Proteste und der Ruf nach Gleichberechtigung, besserem Schutz und härteren Sanktionen wurden gerade in Indien laut. Auch die chinesische Internetlandschaft diskutiert und versucht, die Hintergründe des Verbrechens zu verstehen.
Viele Netizens äußern sich zunächst mit einem ersten „Reflex“ auf das grausame Verbrechen.
So schreibt „sailorsam“:
Ich traue mich nicht mehr nach Indien!不敢去印度了!
Netizen „Xu_mianH“ fügt hinzu:
Ein beängstigendes Land恐怖的国家
Drastischer bringt es Blogger „Zhongguo dongliABC“ zum Ausdruck:
Indien ist eine rückständige und minderwertige Gesellschaft. Die Ungleichbehandlung von Mann und Frau ist wirklich schlimm!印度就是个落后素质很低的社会,重男轻女更严重!
„Miaowu” setzt den Missbrauchsskandal in einen chinesischen Kontext:
Die ganze Sache ist entsetzlich! Aber auch in China laufen noch viele solcher Verbrecher frei herum…这也太恐怖了…不过中国又有多少这样的罪人没被抓住…
Alles eine Frage des politischen Systems!?
Neben diesen emotional aufgeladenen Kommentaren stellen die Netizens aber auch tiefergehende Analysen an. Ein Zusammenhang scheint dabei von großem Interesse zu sein: haben die Vergewaltigung in Indien etwas mit dem politischen System zu tun? „Jingzi Laohu“ fragt ungläubig:
Kann so etwas etwa auch in demokratischen Ländern passieren?民主国家也会发生这样的事情么?
Ratlos und nach Antworten suchend ist auch Blogger „huzizfl“:
Zwei Dinge verstehe ich nicht: Wenn Indien ein solch religiöses Land ist, wie können Missbräuche so weit verbreitet sein? Und: Indien gilt als größte Demokratie, aber gehört so etwas wirklich zur Demokratie?有两点不理解,印度是崇尚宗教国家,为何强奸盛行,印度是所谓最大民主国家,民主是这样的吗?
Ebenfalls wenig Vertrauen in die Demokratie hat „Liu Haifeng“:
(…) Indien ist als größte Demokratie der Welt bekannt. Aber kann man denn von einem gut funktionierenden politischen System sprechen, wenn keine Gleichberechtigung in der Gesellschaft herrscht, ganz zu schweigen von Gerechtigkeit? Ein anderer wichtiger Grund für die Welle der Empörung, welche durch den Missbrauchsfall ausgelöst wurde, ist Indiens marode und unfähige Justiz. Und dies, obwohl in Indien eine unvergleichliche justizielle Unabhängigkeit herrscht, die von vielen Liberalen geschätzt wird (…).(…) 印度虽然是号称“全球最大的民主国家”,但一个没有平等或者严重存在不平等的社会——当然也不会有公正,是一个好的制度吗? 这起强奸案引发的抗议浪潮另一个重要的背景则是印度糟糕的无法再糟糕的司法——尽管这个国家有着许多自由派人士心仪无比的司法独立 (…).
Anderer Meinung ist „Li Huixiang“. Er differenziert und sieht das Problem an anderer Stelle:
(…) Aus dem Missbrauchsfall lässt sich erkennen, dass Indiens Demokratie nur Schein und gescheitert ist. Daraus kann man sogar ableiten, dass die häufigen Vergewaltigungen vermutlich gar nicht mehr zu lösen sein werden, wenn sich in Indien nichts grundsätzlich ändert. Das ist offensichtlich falsch! Ganz zu schweigen davon, dass sich die Politik von der Nation entfremdet hat, zeigt der Vielvölkerstaat Indien ein beachtenswertes Maß an Solidarität. Es ist ein weit verbreiteter Gedanke in Teilen der chinesischen Medien, dass gesellschaftliche Probleme von Staaten, die sich im Umbruch befinden, der Demokratie angelastet werden. In Wahrheit hat der Missbrauchsfall mit Demokratie an sich nichts zu tun. Das Problem liegt in der Politik. Es ist genau so, wie es Cai Dingjian* gesagt hat: Die Demokratie hat sich weiterentwickelt, der Rechtsstaat konnte aber nicht Schritt halten. Das ist der Defekt der Demokratie (…).(…) 强奸案可知,印度的民主是虚假、失败的,甚而进一步推导或暗示,如果印度再这样走老路,强奸案高发的现状依然无解。 这显然是错的。且不说宪政制度为原本国家认同淡漠、民族林立的印度争取到了宝贵的团结局面,将转型国家出现的社会问题归罪于民主制度,也是部分国内媒体常 见的惰性思维。 实际上,印度强奸案根本无关民主,问题还在于法治。正如蔡定剑先生所说,民主发展了,法治不跟上,这才是民主之祸 (…).
Lob für die Reaktion der indischen Bevölkerung
Bei allen kritischen Stimmen schätzen die User aber auch die Reaktion der indischen Bevölkerung. So zum Beispiel „baiwanshuku“:
Was einen aber glücklich stimmt ist, dass die indische Bevölkerung nach dem Verbrechen an der 23-jährigen Studentin zumindest teilweise aufgewacht ist. Viele Menschen, darunter auch einige junge Männer, gingen auf die Straße und führen der Regierung die Probleme der Frauen vor Augen.(…) 值得庆幸的是,印度的部分民众在23岁女大学生遇害后觉醒了,许多人包括年轻男性纷纷走上街头,要政府正视妇女的权益问题 (…).
Ob solch ein Verhalten auch in China möglich wäre, wird von Blogger „Der Geist des Getreidefeldes“ stark bezweifelt:
Warum gehen in Indien nach solch einem Missbrauchsfall so viele Menschen auf die Straße, um zu protestieren? Und wenn in China ein junges Mädchen vergewaltigt wird? Dann dürfen die Medien noch nicht einmal berichten. Und der Schuldige lebt einfach sein Leben weiter, sollte man ihn dabei aber nicht eigentlich steinigen?!为何印度发生强奸案…那么多人上街抗议…中国女童被强奸……媒体却不准报道…主犯活的好好的…他不该被乱石砸死吗?
„LINSHIRUN“ pflichtet dem bei und mahnt auch China in die Diskussion miteinzubeziehen:
Es ist schon merkwürdig, warum diskutieren und berichten wir nicht über Missbrauchsfälle in China? Ich glaube nicht, dass es diese hier nicht gibt. Die Medien schubsen die Kleinen nur umher und schrecken vor dem Staat zurück.很奇怪,怎么不讨论一下和报道一下本国的强奸案呢,我就不信没有,那些媒体都是欺软怕硬
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*Cai Dingjian蔡定剑 (*1955 – †2010) promovierte im Fach Jura an der Peking Universität. Von 1986 bis 2003 war er u. A. in der Forschungsabteilung des Ständigen Ausschuss’ des Nationalen Volkskongress tätig.
Zum Weiterlesen:
Daniel Gerichhausen: „Alte Feinde, neue Freunde? – Annäherung zwischen China und Indien„, Stimmen aus China, 19. September 2012
Christiane Brosius: „Wem gehört die Nacht in Neu Delhi?“, FAZ Online, 1. Januar 2013
Die Übersetzung von von Liu Huixiang geschriebenener 法治 sollte im Kontext der gegenwärtigen chinesischen Gesellschaft als eher „Herrschaft des Rechtes“ übersetzt (oder auf auf Englisch „the rule of law“), die während Neuzeit Chinas (vom Jahr 1840 bis heute) mit traditioneller chinesischen Vokabel, also 法治 (晏子春秋·諫上九》:昔者先君桓公之地狹於今,修法治,廣政教,以霸諸侯。), von chinesischen Intellektuellen ins Chinesisch übersetzt wurde.
Gruß
Zitat von der Übersetzung
„In Wahrheit hat der Missbrauchsfall mit Demokratie an sich nichts zu tun. Das Problem liegt in der Politik.“
Zitat vom Original
“ 实际上,印度强奸案根本无关民主,问题还在于法治。“