Maßstab der chinesischen Moral – lang lebe der gute Soldat Lei Feng

Maßstab der chinesischen Moral – lang lebe der gute Soldat Lei Feng

Propaganda oder moralisch wertvolles Vorbild? Der Soldat Lei Feng

Der chinesische Soldat Lei Feng verstarb im Jahr 1962. Im Jahr 2012 wird er von vielen chinesischen Medien als Vorbild für Mitmenschlichkeit und Selbstaufopferung hochgehalten. Doch Chinas Netizen stellen kritische Fragen. Ein Beitrag von Wang Dandan.

Er half alten Menschen über die Straße. Er brachte eine alte Frau, die kein Geld für den Zug hatte, nach Hause. Er gab armen Menschen sein eigenes Essen und er wusch die Wäsche seiner Kameraden. Außerdem, so zeigen es Fotos, studierte er bis tief in die Nacht Mao Zedongs Werke, was seine Loyalität zu dem ehemaligen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chinas verdeutlicht. Er, das war der gute Soldat Lei Feng, der in China zurzeit wieder stark ins Gedächtnis der Leute gerückt wird. Die chinesische Führung will neue Maßstäbe in puncto Werte und Vorbilder setzen, denn immer wieder erschüttern neue Fälle von Machtmissbrauch  ihre Glaubwürdigkeit. Die instabile Wirtschaftslage lässt ihre wachstumsorientierte Legitimationsbasis bröckeln.

 

Offiziellen Darstellungen zufolge starb Lei Feng im August 1962 als 22-jähriger Soldat der Volksbefreiungsarmee bei einem Unfall. Aufgrund Leis Selbstlosigkeit und Bescheidenheit rief Mao am 5. März 1963 dazu auf, „vom Kameraden Lei Feng [zu] lernen“. Seitdem wird der 5. März in China als Lei Feng-Tag gefeiert und gilt als Tag des sozialen Engagements. Da sich im Sommer 2012 der Tod Lei Fengs zum fünfzigsten Mal jährt wird der „Mustersoldat Lei Feng“ 2012 in China noch mehr als Vorbild präsentiert als bisher.

 

Überall auf den Straßen in Peking sieht man Lei Feng Fotos. Blutspende-Stationen rufen die Bürger mit Plakaten von Lei Feng zum Blutspenden auf und in den Buchläden gibt es eigens ganze Regale, die sich mit dem Thema Lei Feng beschäftigen. Auch die offiziellen Medien, allen voran die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua, bombardieren die Menschen mit Berichten über Lei Feng.

 

Sogar Li Congjun, Präsident und Parteichef der Xinhua Nachrichten Agentur schrieb eine mehr als 10.000 chinesische Zeichen lange Reportage mit der er seine Leser motivieren wollte, von Lei Feng zu lernen. Während die offiziellen Medien Lei Feng nach wie vor als wichtiges Vorbild feiern, wird im Internet darüber diskutiert, warum China überhaupt so eine Figur wie Lei Feng braucht und wie wahr die Heldengeschichten von Lei Feng wirklich sind.

 

Was für ein Vorbild braucht China?

 

Blogger Li Chengpeng beschreibt in seinem Artikel, wie er als kleines Kind nach dem Vorbild Lei Fengs anderen „geholfen“ hat. Außerdem fragt sich Li, warum das heutige China überhaupt noch die Figur Lei Feng braucht.

 

„小时候谁没拎过一桶脏水,把环卫工人其实已擦干净了的栏杆再擦一遍。我还把我妈给的零花钱假装路上捡的交到班主任那里,从而成功登上了当期好人好事榜。

内心里我觉得一个国家是需要道德的,特别是小女孩被反复辗压而十八路人漠然视之的时候。其实雷锋精神就是古今中外都认可的利他精神。我也觉得一个时代可以有道德模范,雷锋是个好人,…… 从个人的社会角色扮演也没什么可指责的。可是,一个国家主张什么榜样,就暗示它的方向……

„Als kleines Kind hat doch fast jeder einen Eimer mit schmutzigem Wasser herangeschleppt, um das bereits sauber gemachte Geländer auch noch einmal sauber zu machen. Ich habe damals sogar das Kleingeld, das mir meine Mutter gegeben hat, beim Lehrer abgegeben und gesagt ich hätte es auf der Straße gefunden. Danach wurde ich in die Liste der „moralisch guten Schüler“ eingetragen.

Ich glaube von ganzem Herzen, dass ein Land Moral braucht besonders wenn ein kleines Mädchen überfahren und von 18 Passanten einfach ignoriert wird. Der so genannte „Lei Feng-Geist“ kümmert sich um Andere und wird durch die Zeiten im In- und Ausland anerkannt. Ich glaube, dass es in jedem Zeitalter ein moralisches Vorbild geben kann. Lei Feng war ein guter Mensch […]. Seine gesellschaftliche Rolle kann man nicht kritisieren. Aber was für ein Vorbild ein Land hochhält deutet auf seine (Entwicklungs)Richtung hin. […].

 

Li ist der Ansicht, dass Lei Feng zwar ein Vorbild sei, aber gleichzeitig verdeutliche Lei Fengs Verhalten von damals auch, welche Probleme es in den 1950er Jahren in China gab.

 

„我仔细研究了雷锋的事迹,他很爱把自己的馒头或面包送给从早上就没吃饭的群众吃,我就奇怪怎会有这么多没养成早饭好习惯的群众,后来才知道那正处在1960至1962年间是大饥荒时代,中国饿死了千万人。我发现雷锋很爱把部队的线衣、棉裤脱给在雪天里冷得发抖的群众,这证明,虽然那时的人民日报天天宣传人民已丰衣足食,实际情况并非这样。我也发现雷锋常带着战友们去瓢儿屯车站帮忙打扫卫生、送茶送水,特别每逢年节这里就人山人海,这表明多少年来我们一直没解决春运的问题。…… 雷锋是一个难得的好人,可树立道德模范是要与时俱进的,否则远看好像树起了一个道德模范,近看其实是一个社会问题的救火员。这难免让人们去想,这是在树立什么,还是在掩盖什么,这到底是宣传……“

„Ich habe mich intensiv mit der Geschichte von Lei Feng beschäftigt. Er gab anderen Menschen, die nicht frühstückten, gerne seine Brötchen. Ich frage mich, warum es so viele Leute gab, die nicht frühstückten. Ich habe dann herausgefunden, dass es in China zwischen 1960 und 1962 eine Hungersnot gab bei der Millionen Menschen verhungerten. Ich habe außerdem gelesen, dass Lei Feng gerne seinen eigenen Pullover oder seine dicke Stoffhose auszog und seine Kleidung dann frierenden Menschen gab. Das zeigt uns, dass die Volkszeitung zwar jeden Tag propagierte es gäbe in China genügend Essen und genügend Kleidung, aber dies in Wahrheit gar nicht so war. Ich habe auch gelesen, dass Lei Feng mit seinen Kollegen während des Frühlingsfests zum Bahnhof ging und den Menschen die dort lange auf einen Platz in den überfüllten Zügen warten mussten Tee und Wasser brachte. Überdies hat er die Wartehalle geputzt. Das wiederum zeigt uns, dass das Problem rund um das Frühlingsfest eine Zugfahrkarte zu bekommen, schon lange existiert und seit langem nicht gelöst werden kann. […].  Lei Feng ist ein guter Mensch. Aber um einer Gesellschaft ein Vorbild vermitteln zu können und diese damit zu motivieren, muss man mit der Zeit gehen. Lei Feng war ein Vorbild für seine Zeit, in der es bestimmte Probleme gab. Heute allerdings gibt es andere Probleme und da braucht man andere Vorbilder. Wenn man an so einem alten Vorbild festhält, dann kann das „Nebenwirkungen“ haben, z.B. dass die Leute ihren Glauben [an das Vorbild] verlieren. Man fragt sich, was da vermittelt wird, oder was da vielleicht verdeckt wird. Ob das alles nur Propaganda ist […]?“

 

Mutter Teresa oder Lei Feng? Bitte keine übermenschlichen Vorbilder mehr in China

 

Li kritisiert in seinem Blog weiter, dass die von der Regierung vermittelten Vorbilder zu übermenschlich seien. Li vergleicht Lei Feng mit Mutter Teresa. Seiner Meinung nach reicht es nicht, wenn man den anderen nur mit materiellen Dingen hilft, ihnen also zum Beispiel Brot gibt. Viel wichtiger sei es, die Menschen wissen zu lassen, dass sie ein Recht auf diese materiellen Dinge haben und auch, dass sie durch die Hilfe ihre menschliche Würde behalten können.

 

Li schreibt von einem alten Mann, der sich kurz vor seinem Tod bei Mutter Teresa bedankte: „Die ganze Zeit habe ich wie ein Hund gelebt, aber jetzt fühle ich mich wie ein richtiger Mensch. Danke!“

 

 我并不反对提倡道德,但中国式道德模范门槛太高了。…… 救溺水者不幸牺牲的,累死在工作岗位上的,救人时把自己儿子留在最后的,自己穷得叮当响举债十七万捐款的最后得胃癌去世的,…….总之就是牺牲 的、牺牲的……我佩服这些勇于牺牲的人,可另一个问题是,为什么我们总让他们去牺牲,或者不牺牲的就不叫模范,所以道德教育门槛一定要低,弄成吊环就是忽 悠群众……

好人和榜样并非一样,很多时候我们被救助得仍像一条狗,就算吃饱了,仍是一条吃饱了的狗……。不仅像雷锋那样给予人们面包和棉裤,更要像特蕾莎那样让人们知道他有权利得到面包和棉裤;不仅像雷锋那样在大雨天送母子回家,更重要的是像特蕾莎修女那样在苦难的日子给予人们尊严和归宿。

让每一个人知道,即使一生活得像条狗,死的时候也该像个人。这才是榜样的力量。

Ich bin nicht dagegen die Moral zu fördern. Aber der Maßstab der chinesischen Moral ist zu hoch. Zum Beispiel gibt es Leute, die ums Leben kommen, weil sie einen Ertrinkenden gerettet haben, andere sind bei der Arbeit gestorben. Wieder andere haben zuerst andere Menschen gerettet und dabei ihre Kinder zurückgelassen. Oder sie haben, obwohl sie selbst ganz arm waren, viele tausend Yuan gespendet und sind am Ende an Magenkrebs gestorben […]. Immer geht es ums Aufopfern, ums Aufopfern. […]. Ich verehre solche Leute. Aber eine Frage habe ich dennoch: warum lassen wir sie sich aufopfern bzw. warum ist man nur dann ein moralisches Vorbild wenn man sich aufopfert?

Meiner Meinung nach sollte der Maßstab der Moral niedriger sein (man muss nicht erst sterben um als Vorbild zu gelten), zu hohe Maßstäbe oder Ansprüche sind verdächtig und erscheinen als Lüge.

Ein guter Mensch zu sein und ein Vorbild zu sein, das ist nicht das Gleiche. Meistens wird uns so geholfen, als seien wir Hunde. Und auch wenn wir satt sind, dann sind wir immer noch Hunde [wie der Mann der sich vor Mutter Teresa als Hund bezeichnete]. […].

Man soll von Lei Feng nicht nur lernen, anderen Menschen Brot zu geben. Es ist wichtiger, wie Mutter Teresa das gemacht hat, die anderen wissen zu lassen, dass sie ein Recht auf Nahrung und Kleidung haben. Man soll nicht nur von Lei Feng lernen, die anderen bei Regen nach Hause zu bringen. Es ist wichtiger, wie es Mutter Teresa gemacht hat, den anderen in der Not auch menschliche Würde und Zugehörigkeitsgefühl zu geben

Jeden Menschen, selbst wenn er wie ein Hund gelebt hat, wissen zu lassen, dass er wie ein Mensch sterben kann. Das ist die Kraft eines Vorbildes.

 

Lei Feng – ein falsches Vorbild für China?

 

Außerdem gab es im Internet auch eine Debatte darüber, ob bei der Geschichte von Lei Feng alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Zunächst erschien ein Interview mit einem Fotografen der Volksbefreiungsarmee, in dem dieser eingestand, dass einige Fotos von Lei Feng gefälscht seien. Auch einige Netizen sind dieser Ansicht. In diesem Zusammenhang bezweifeln einige Netizen in China auch die Echtheit der Fotos.

Blogger „Simen Kenjin“ ist der Meinung, dass die Fotos von Lei Feng gefälscht wurden, um ihn als Propaganda-Figur zu nutzen.

 

„雷锋1960年参军,至1962年牺牲,一年多时间里,共留下了他200多幅生动的照片……..

可是,偏偏就是这200多张照片却让人起疑。上世纪八十年代之前,对绝大多数中国人来说,拍照是很奢侈的事,许多人一辈子只拍过一、两张照——毕业照或是结婚照。60-62年是中国经济最困难的时候,老百姓饿得生浮肿病,中南海都要吃窝窝头,全国一共饿死3700万人。居然在这样的时刻,雷锋一年多时间能拍下200多照片,不但有工作照和学习照,甚至还有生活照。拍那么多照片,比买一辆自行车还贵。那时候的老百姓必须积攒好几年才能买得起一辆自行车。要他自掏腰包,凭当小兵那每月几元钱津贴,休想。那么,谁为他出这笔钱的?

„Lei Feng ist 1960 in die Armee eingetreten und 1962 gestorben. Aus dieser Zeit gibt es mehr als 200 Fotos von Lei Feng […]. Und genau diese 200 Fotos sollten hinterfragt werden, denn noch bis in die 1980er Jahre war Fotografieren für die meisten Chinesen ein Luxus.

Viele Chinesen [in den 1960ern und 1970ern] wurden in ihrem ganzen Leben nur ein- oder zweimal fotografiert, wie z.B. bei der Hochzeit oder beim Schulabschluss. Die frühen 1960er Jahre waren die ärmsten in China. 37 Millionen Menschen verhungerten und sogar die Regierungschefs in Zhongnanhai* mussten Maisbrötchen essen [da es an Mehl mangelte]. Und aus genau dieser Zeit konnte es so viele Fotos von Lei Feng geben? Fotos über seine Arbeit, über das, was und wie er lernte, es gibt sogar Fotos aus seinem Alltag. All diese Fotos wären damals so teuer wie ein Fahrrad gewesen. Normale Leute in der damaligen Zeit hätten mehrere Jahre sparen müssen, um sich ein Fahrrad leisten zu können. Ein normaler Soldat konnte sich mit seinem Verdienst in der Armee so viele Fotos gar nicht leisten. Somit ergibt sich die Frage wer für ihn die Fotos bezahlt hat (und warum)?

 

„Simen Kenjin“ kritisiert in seinem Artikel außerdem dass einige Fotos deutlich als Fälschung erkennbar sind.

 

雷锋星期天为战友们洗衣服”的照片中,雷锋微笑着拧着战友的衣服。然而,雷锋日记中这样写:“今天是星期天,我没有外出,给班里的同志洗了五床褥 单,…,班里的同志感到很奇怪,不知道谁把褥单都洗得干干净净的,…,我觉得当一名无名英雄是光荣的。”雷锋自己说,他为战友 洗衣服是悄悄的,没人知道的,可是,怎么又会被人拍了下来的呢?又如,雷锋的一张“打开手电筒,夜间读毛泽东著作” 的照片,难道摄影师晚上还随侍一旁?还有雷锋“送老太太回家”的照片,难道半路上恰恰被摄影师碰上,并被抓拍了下来?怎么雷锋“做好事不留名”的这样的行 为,竟然连连被摄影师“抓怕”到了?一个普通士兵偷偷做好事,居然又被一名摄影师神不知鬼不觉的偷偷拍了下来,也真是奇了!

Auf dem Foto „Lei Feng macht am Sonntag für andere Soldaten Wäsche“ wird gezeigt, wie der lächelnde Lei Feng die Kleidung seiner Armeegenossen auswringt und im Tagebuch von Lei Feng steht dazu: ‚Heute ist Sonntag. Ich bin nicht rausgegangen und habe fünf Bettbezüge gewaschen […], die Genossen in der Klasse waren fassungslos und haben sich gewundert, wer die Wäsche gemacht hat. […]. Es ist für mich eine große Ehre, ein namenloser Held zu sein.’ Lei Feng hat selbst geschrieben, dass niemand wusste, dass er die Wäsche für die anderen Soldaten gemacht hatte. Aber wieso wurde er fotografiert?

Ein anderes Beispiel ist das Foto „Die Taschenlampe einschalten und Maos Werke in der Nacht lesen“. Hat der Fotograf etwa sogar in der Nacht neben Lei Feng gewartet? Ein anderes Foto zeigt das Motiv „Die alte Oma nach Hause bringen“. Wie ist das zustande gekommen? Ist der Fotograf Lei Feng mit der alten Oma auf dem Weg begegnet? Lei Feng behauptete, dass er den anderen geholfen hat, ohne sich zu erkennen zu geben. Aber warum wurde er trotzdem fotografiert? Es ist wirklich ein Wunder, dass der Fotograf sogar Momentaufnahmen von solchen Ereignissen machen konnte.

 

Zum Weiterlesen:

Siemons, Mark: Der Gute Mensch Lei Feng, Frankfurter Allgemeine Online, 22.03.2012

Jacobs, Andrew: Chinese Heroism Effort Is Met With Cynicism, The New York Times Online, 05.03.2012 (englisch)

 

Kategorien: Politik. Permalink.

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