Chengdu, 07. Februar 2012, gegen zehn Uhr abends: 24 Stunden ist es nun her, dass sich „Chinas Dirty Harry“ Wang Lijun im Schutz von Nacht und Perücke mit hochbrisanten Informationen ins US-Konsulat gerettet und politisches Asyl ersucht hat. Vergeblich, denn Washington senkt den Daumen und die in Windeseile aus Peking herbeigeeilten Agenten der Staatssicherheit reiben sich draußen schon die Hände. Heiß brodelt(e) seitdem auch die chinesische Gerüchteküche, aus der Oliver Pöttgen berichtet.
Wang Lijun: Chinas Dirty Harry und Bo Xilais Protegé
Wang Lijun, 52, war bis vor kurzem noch der bekannteste Polizist Chinas und trotz seiner vergleichsweise niedrigen Position eine der schillerndsten Figuren des chinesischen Politzirkus. Nach steiler Karriere in der Provinz Liaoning wechselte er 2008 in die südwestchinesische Riesenmetropole und Mafia-Hochburg Chongqing. Er avancierte dort als Polizeichef, Vize-Bürgermeister und hart durchgreifender Mafiajäger endgültig zum Volkshelden und erregte auch landesweit großes Aufsehen. Fast schon zu einem Supermann stilisiert, hatte er das Image eines Ganovenschrecks und Aufräumers, der als jähzorniger und pedantischer Karrierist auch gegenüber eigenen Leuten wenig Skrupel gezeigt haben soll und es mit dem Gesetz wohl selbst nicht so genau nahm. Er war Protegé und rechte Hand des ähnlich schillernden und skandalumwitterten Politikers Bo Xilai, der bis März 2012 als Chongqings KP-Chef und Hoffnungsträger der chinesischen Linken diente, dann aber durch Wangs Flucht zu Fall gebracht wurde und abtreten musste.
Ein politisches Erdbeben: Wang Lijuns präzedenzlose Flucht und ihre Folgen Wangs Stern sank spätestens mit der am 02. Februar 2012 bekannt gegebenen Versetzung auf unbedeutende Posten, wobei die Hintergründe nach wie vor ungeklärt sind. Es wird gemutmaßt, dass ihn seine kriminellen Verstrickungen für Bo Xilai untragbar werden ließen, da dieser eine Instrumentalisierung Wangs durch politische Gegner gefürchtet habe und erste Ermittlungen bereits eingesetzt hatten. Kurz nachdem er ein Treffen mit britischen Diplomaten in Chongqing platzen ließ, floh Wang am 06. Februar 2012 ins über 300 Kilometer entfernte Chengdu und schlich sich schließlich drehbuchreif gegen 22 Uhr ins dortige US-Konsulat, im Gepäck hochbrisante, Bo Xilai mutmaßlich schwer belastende Dokumente. Wie unfreiwillig komisch und paradox dieser Schachzug bei der gelegentlichen Anti-US-Rhetorik vieler chinesischer Offizieller anmuten muss, verdeutlicht ein Vergleich des selbst aus Chengdu stammenden Li Chengpeng, der zu Chinas prominentesten und scharfzüngigsten Bloggern zählt:
你见过尼克松因水门事件被调查就跑前苏联使馆申请避难吗,或者马丁.路德金嫖娼被抓就半夜求见朝鲜大使,克林顿被曝了搞破鞋就一夜滞留中国使馆…… Haben Sie gesehen, dass sich Nixon wegen der Watergate-Ermittlungen in die Botschaft der UdSSR geflüchtet und Asyl beantragt hätte, oder der wegen Rumhurerei festgenommene Martin Luther King den nordkoreanischen Botschafter hätte sehen wollen, oder dass sich Clinton nach Aufdeckung seines Sex-Skandals eine Nacht in der chinesischen Botschaft aufgehalten hätte?
Die in China präzedenzlose Flucht Wang Lijuns ließ das Jahr 2012 mit einem politischen Paukenschlag beginnen, der weitere nach sich zog: Durch die Absetzung Bo Xilais und die Aufnahme von Ermittlungen gegen ihn und seine Ehefrau Gu Kailai sowie die Kritik des Ministerpräsidenten Wen Jiabao an den Zuständen in Chongqing wurde auch das in China heiß diskutierte „Chongqing-Modell“ diskreditiert. Linkskonservative Internetseiten wurden geschlossen und die chinesische Linke findet sich ein halbes Jahr vor dem 18. KP-Parteitag deutlich geschwächt. Nachdem sich die Sicherheitslage in Chongqing und Chengdu während der letzten Wochen anspannte, köchelte die Internet-Gerüchteküche Ende März sogar einen Umsturzversuch im Pekinger KP-Hauptquartier hervor, was auch westlichen Medien wie der Zeit eine Meldung wert war.
Volksheld als Opfer einer Polit-Seifenoper: Chinesische Stimmen zum „Wang Lijun-Zwischenfall“
Der „Wang Lijun-Zwischenfall“ ist somit das und zog eine ganze Menge von dem nach sich, was der Jura-Professor Xu Danunter einer „richtigen Nachricht“ versteht:
在中国从来就没有真正的新闻,只有宣传和小道消息。前者是刻意制作的,后者是半真半假,这样的新闻,评不评意义都不大。昨晚与朋友进餐,一桌学者围绕着最热门的话题,争论不休,招得我旧病复发,[…]。 Richtige Nachrichten gab es in China noch nie, sondern nur Propaganda und Klatsch. Ersteres ist fabriziert und Letzteres sind Halbwahrheiten. Solche Nachrichten lohnen das Kommentieren kaum. Als ich gestern Abend mit Freunden essen war, da kreiste unser Tisch lauter Akademiker um das heißeste Thema und wir diskutierten pausenlos. Es packte mich derart, dass meine alte Krankheit wieder ausbrach [gemeint ist seine frühere Blogging-Leidenschaft, der er abgeschworen hatte], […].
Da es nicht nur ihn (wieder) an die Tastatur trieb, brodelte die Gerüchteküche bis zur Indizierung des Themas Ende Februar auf höchster Flamme: Es kursierte ein sehr wahrscheinlich gefälschter Brief Wang Lijuns, in dem er „seine“ Motive offenlegt; man rekapitulierte minutiös seine Karriere, stellte Fotostrecken* zusammen und erinnerte sich an eine auf seiner Lebensgeschichte basierenden Polizeiserie aus dem Jahr 1999 mit dem vielsagenden, aber nicht elegant ins Deutsche zu bringenden Titel „tiexue jinghun„, wörtlich: „Blut und Eisen“ + „Polizeiseele“. Viele User-Kommentare zeugen von der großen Sympathie gegenüber Wang und der Bestürzung über die Ereignisse. Ein Caixin-Artikelliefert hierfür einige anonyme Beispiele:
国家的好干部,都是这样的结局吗?汗颜! Enden alle guten Staatskader auf diese Weise? Man muss sich schämen! 悲哀,太能干了,为了啥呀,人民的好局长,结果!!!!!! Traurig, er war einfach zu fähig! Wofür nur!? Ein guter [Polizei]Amtschef des Volkes, und dann so ein Ende!!!!!! 你是政治牺牲品,人民会记得你,党记得你,当官不记得你了。他们怕你这样人。 Du bist Opfer der Politik. Das Volk wird sich an dich erinnern, die Partei erinnert sich an dich. Die Beamten erinnern sich nicht mehr an dich, sie fürchten Menschen wie dich.
Besonders interessant sind Reaktionen von Bürgern Chongqings, auch weil man sich dort von Regierungsseite daran gemacht hat, Wang aus dem „Gedächtnis“ der Stadt zu tilgen. Der Blogger Jiu Shunzeigt sich bewegt und spricht vielleicht vielen Chongqingern aus dem Herzen:
王立军是我心中永远的英雄!任何抹杀他的议论我都不相信。我们中国人说观其言还要看其行,大家到重庆看看,社会治安发生了多大的变化啊!现在老百姓才真正感到安全,如果说王立军是“贪官“,我们都要这样的“贪官“,我更希望中国的官都像王立军一样,我们永远支持你。 Wang Lijun wird in meinem Herzen der ewige Held sein! Keiner der ihn diffamierenden Diskussionen glaube ich. Wir Chinesen sagen, dass man nicht nur auf Worte, sondern auch auf Taten schauen muss. Kommt alle mal nach Chongqing und seht selbst, wie sehr sich die öffentliche Sicherheit verändert hat! Erst jetzt fühlen sich die Menschen wirklich sicher. Wenn man sagt, Wang Lijun sei ein „habgieriger Beamter“ gewesen, dann wollen wir alle solch „habgierige Beamten“; mehr noch hoffe ich, dass alle chinesischen Beamten wie Wang Lijun sind. Wir werden dich immer unterstützen.
Die „black box“: Kritik an der Intransparenz chinesischer Politik Neben solch emotionalen Stellungnahmen fällt besonders die Kritik am chinesischen Politikbetrieb im Allgemeinen ins Auge. Hauptthemen sind hier die mangelnde Transparenz, die Entrücktheit chinesischer Politik und ihr Intrigantenstadl. Professor Xukonstatiert:
中国政治走到今天,并未走出宫墙,始终是一种宫廷政治,宫廷斗争变化莫测,随时翻牌! Bis heute hat Chinas Politik die Palastmauern überhaupt noch nicht verlassen, es ist Palastpolitik vom Anfang bis zum Ende. Die Veränderungen in den Palastkämpfen sind nicht vorauszusehen, jederzeit kann sich die Lage ändern!
Auch der Ökonom Mao Yushiprangert Geheimniskrämerei und Willkürlichkeit an und fordert öffentliche Kontrolle ein:
[…],不论他们做什么事外头人都不知道,所以能够为所欲为. […]现在王立军出事,希望当局将侦讯过程全部公开透明,让公众监督。 […], egal, was sie machen, kein Außenstehender weiß davon, daher können sie machen, was sie wollen. Ich hoffe, wo das jetzt mit Wang Lijun passiert ist, dass die Behörden den Ermittlungsprozess transparent gestalten und durch die Öffentlichkeit kontrollieren lassen werden.
Hieraus entsteht für die Kommentatoren des Vorfalls ein Grundproblem, wenn sie die Hintergründe oder gar Motive aller Beteiligten beleuchten wollen – sei es derer in Chongqing oder in Peking: Da man es mit einer gigantischen „black box“ (oder vielen kleinen, miteinander verbundenen und teils nach jeweils eigenen Regeln funktionierenden „black boxes“) zu tun hat, bleibt Vieles im Dunkeln. Die gemutmaßten „Palastintrigen“ nehmen in der Diskussion erwartungsgemäß viel Raum ein. Hier soll aber nur angerissen werden, dass der „Wang Lijun-Zwischenfall“ vor dem Hintergrund des 18. KP-Parteitags häufig als Ausdruck eines Machtkampfs zwischen Bo Xilai und Xi Jinping gelesen wird, dem designierten Nachfolger Hu Jintaos als mächtigstem Mann Chinas (bspw. in einem online nicht zugänglichen Artikel von Fang Xiyi in der März-Ausgabe der taiwanesischen Zeitschrift Cheng Ming. Wirkung auf Chinas Offizielle?In seinem Kommentar zu den Ereignissen in Chongqing wundert sich Blogger-Papst Han Han auch über die an Chinas Beamten und Kader gestellten Anforderungen und spottet:
中国的官员本身就是极其分裂的,他们上午进会场,晚上进会所,一方面要学习和领会六十年代风格的文件,一方面又要在互联网上仔细分辨微博和QQ的区别,而 他们在批评美国的同时也要精确的知道美领馆的位置。在这里,你读不懂中国。 Chinas Offizielle sind selbst äußerst zwiegespalten: Morgens Sitzungen, abends Sitzungen, einerseits sollen sie den Stil der Dokumente aus den 60er Jahren studieren und beherrschen, andererseits im Internet den Unterschied zwischen Weibo und QQ sorgfältig analysieren. Und während sie die USA kritisieren, müssen sie auch den Standort der US-Konsulate exakt kennen. Da versteh noch einer China.
Auch der Schriftsteller Cao Junshuhatte Ende März Verständnisschwierigkeiten:
重庆官员和代表,我跟你有仇吗?为什么你们总想笑死我?[…] 王L军,去年你们才全票通过他当选副市长。才过了几个月,你们又全票罢免他的副市长职务。。。。你们。。。。请问,你们是卖票的吗? Beamte und Vertreter Chongqings, hasst ihr mich? Warum wollt ihr immer, dass ich mich totlache? […] Erst letztes Jahr habt ihr Wang Lijun einstimmig zum Vize-Bürgermeister gewählt. Nach nur ein paar Monaten erkennt ihr ihm nun diesen Posten wieder einstimmig ab… Ihr … Entschuldigung, seid ihr käuflich?
Gerade angesichts solcher Verrenkungen drängt sich abschließend die auch vom Autor Zeng Boyan mit Blick auf Chinas Polizisten gestellte Frage auf, welche Auswirkungen der „Wang Lijun-Zwischenfall“ auf die Gefühlswelt Chinas Offizieller hat? Wie demoralisierend muss es wirken, wenn Volkshelden eines autoritären Systems in eine Demokratie flüchten wollen, wenn ehemals Hochgeschriebene nun totgeschwiegen werden (müssen)? Welche persönlichen Lehren mögen Chinas Staats- und Parteibedienstete aus den Vorfällen ziehen? Li Chengpeng erinnert sich in einem mittlerweile gelöschten Weibo-Tweet eines offenen Briefes des Jura-Professors He Weifangan Chongqings Juristen vom April 2011. Er zitiert daraus eine fast schon prophetisch zu nennende Stelle und wendet sie auf die aktuellen Ereignisse:
尊重独立司法对于手握大权的人一样重要。文强在炙手可热的时候根本不会意识到这种独立性的价值,但一旦沦为阶下囚,他也许幡然醒悟,深刻地感受到,没有独立的司法,没有一个人是安全的。 Die Unabhängigkeit der Justiz zu achten, das ist auch für Machthabende wichtig. Als [der frühere Justizchef Chongqings] Wen Qiang* selbst noch unantastbar war, da konnte er sich des Wertes dieser Unabhängigkeit überhaupt nicht bewusst sein. Sobald er aber zum Häftling herabgesunken war, da wurde ihm vielleicht schlagartig klar und er fühlte zutiefst, dass kein Mensch sicher ist, wenn es keine unabhängige Justiz gibt.
Bei Han Hanfindet sich dies etwas bündiger formuliert:
今天能开动国家机器的,明天就被国家机器带走. Diejenigen, die heute den Staatsapparat antreiben, können morgen von ihm abgeholt werden.
Abgeholt wurde auch Wang Lijun. Sein derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt. Nach Abschluss der Ermittlungen droht ihm wegen Geheimnisverrats die Todesstrafe. _____ * Bilderstrecken zu Wang Lijun auf bbs.hsw.cn (chinesisch), 09.03.2012 ** Wen Qiang war Chongqings Justizchef und wurde wegen Korruption im Jahr 2010 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Zum Weiterlesen „Der tiefe Fall des Bo Xilai – Polit-Thriller, garniert mit Mord„, auf faz online, 18.04.2012 Bilder: Cheng Ming online (争鸣)
Aktualisierung:
Wie die in Hongkong beheimatete South China Morning Post berichtet (http://chinaoutlook.scmp.com/zh-cn/article.php?ArticleID=1000024691), soll das Verfahren (Anklage wegen Landesverrats) gegen Wang Lijun im nächsten Monat eröffnet werden, der Gerichtsort werde Chengdu sein. Für diesen Fall sei eigens eine Expertengruppe eingerichtet worden.
Laut Bericht der Deutschen Welle vom 05.09.2012 (http://www.dw.de/dw/article/0,,16221154,00.html?) wird Wang Lijun angeklagt werden wegen
– Verrats / Überlaufens (Flucht ins US-Konsulat)
– Amtsmissbrauchs / Rechtsbeugung (im Fall Gu Kailai)
– Bestechung
Im ostchinesischen Jinan (Provinz Shandong) hat unter großem Sicherheitsaufgebot der Prozess gegen Bo Xilai begonnen. Vorgeworfen werden ihm Amtsmissbrauch, Unterschlagung und Bestechlichkeit. Das Verfahren gegen Bo gilt als Exempel im Kampf Chinas Führung gegen Korruption.